Nach dem Erwerb eines Gebäudes kann die Restnut­zungs­dauer von weniger als 50 Jahren durch das Wertgut­achten eines öffent­lich bestellten und verei­digten Sachver­stän­digen nachge­wiesen werden. Für die Anerken­nung einer verkürzten tatsäch­li­chen Nutzungs­dauer ist es nicht erfor­der­lich, ein Bausub­stanz­gut­achten vorzu­legen.

Praxis-Beispiel:
Der Kläger erwarb im Rahmen eines Zwangs­ver­stei­ge­rungs­ver­fah­rens ein freiste­hendes Dreifa­mi­li­en­haus. Im Auftrag des Amtsge­richts wurde von einem öffent­lich bestellten und verei­digten Sachver­stän­digen ein Wertgut­achten für das Grund­stück erstellt. Danach bestand das Wohnhaus im Wesent­li­chen noch in dem Zustand des Erbauens. Die Wohnung im Erdge­schoss war 2007 umfang­reich renoviert worden, die Wohnungen im Ober- und Dachge­schoss waren noch im ursprüng­li­chen Zustand. Der Gutachter ging wegen „Moder­ni­sie­rung und Zustand am Stichtag” (fiktiv) von einem Baujahr 1960 aus. Die Gesamt­nut­zungs­dauer des Wohnge­bäudes gab er mit 80 Jahren an und die Restnut­zungs­dauer mit 30 Jahren. Der Kläger machte daher anstelle der gesetz­lich vorge­se­henen 2% in seinen Einkom­men­steu­er­erklä­rungen bei den Einkünften aus Vermie­tung und Verpach­tung eine höhere Abschrei­bung von 3,33% der Anschaf­fungs- bzw. Herstel­lungs­kosten geltend. Das Finanzamt erkannte die Abschrei­bung ledig­lich in Höhe von 2% an.

Das Finanz­ge­richt hat entschieden, dass entgegen der Auffas­sung des Finanz­amts ein erhöhter Abschrei­bungs­satz von 3,33% anzuwenden ist. Bei Wirtschafts­gü­tern, deren Nutzung sich erfah­rungs­gemäß auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt, ist jeweils der Teil der Anschaf­fungs- oder Herstel­lungs­kosten abzusetzen, der bei gleich­mä­ßiger Vertei­lung dieser Kosten auf die Gesamt­dauer der Nutzung auf ein Jahr entfällt (= lineare Abschrei­bung). Die Abschrei­bung bemisst sich hierbei nach der betriebs­ge­wöhn­li­chen Nutzungs­dauer des Wirtschafts­guts.

Abwei­chend davon sind für die Abschrei­bung von Gebäuden, die zur Erzie­lung von Einkünften genutzt werden, Prozent­sätze gesetz­lich festge­legt (§ 7 Abs. 4 Satz 1 EStG). Die Regelung stellt eine gesetz­liche Typisie­rung der Nutzungs­dauer dar. Aber! Statt­dessen kann bei der Ermitt­lung der Abschrei­bung die tatsäch­liche kürzere Nutzungs­dauer eines Gebäudes zugrunde gelegt werden.

Die zu schät­zende Nutzungs­dauer wird bestimmt durch den techni­schen Verschleiß, die wirtschaft­liche Entwer­tung sowie recht­liche Gegeben­heiten, welche die Nutzungs­dauer eines Gegen­stands begrenzen können. Auszu­gehen ist von der techni­schen Nutzungs­dauer, also dem Zeitraum, in dem sich das Wirtschaftsgut technisch abnutzt. Sofern die wirtschaft­liche Nutzungs­dauer kürzer als die techni­sche Nutzungs­dauer ist, kann sich der Steuer­pflich­tige hierauf berufen.

Ob den Abschrei­bungen für Abnut­zung eine der gesetz­lich vorge­se­henen, typisierten Zeiträume unter­schrei­tende verkürzte Nutzungs­dauer zugrunde gelegt werden kann, beurteilt sich nach den Verhält­nissen des Einzel­falls. Es ist Sache des Steuer­pflich­tigen, im Einzel­fall eine kürzere tatsäch­liche Nutzungs­dauer darzu­legen und gegebe­nen­falls nachzu­weisen. Entgegen der Auffas­sung des Finanz­amts ist die Vorlage eines Bausub­stanz­gut­ach­tens nicht Voraus­set­zung für die Anerken­nung einer verkürzten tatsäch­li­chen Nutzungs­dauer.

Wählt ein Steuer­pflich­tiger oder ein Sachver­stän­diger aus nachvoll­zieh­baren Gründen eine andere Nachweis­me­thode, kann diese für eine Schät­zung einer kürzeren tatsäch­li­chen Nutzungs­dauer zugrunde gelegt werden. Da im Rahmen der Schät­zung nur die größt­mög­liche Wahrschein­lich­keit über eine kürzere tatsäch­liche Nutzungs­dauer verlangt werden kann, würde eine Veren­gung der Gutach­ten­me­thodik oder eine Festle­gung auf ein bestimmtes Ermitt­lungs­ver­fahren die Anfor­de­rungen an die Feststel­lungs­last übersteigen. Da der Kläger das Wertgut­achten deines öffent­lich bestellten und verei­digten Sachver­stän­digen vorge­legt hat, das vom Amtsge­richt in Auftrag gegeben wurde, liegt kein Partei­gut­achten vor. Das Ergebnis des Gutach­ters, dass die Restnut­zungs­dauer des Hauses 30 Jahre beträgt, ist daher der Besteue­rung zugrunde zu legen.

Quelle: Finanz­ge­richte | Urteil | FG Münster, 1 K 1741/18 E | 26-01-2022